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BUCH Amalthea Verlag, 2021

»Mutig neue Wege gehen«

Auszug aus dem Buch "Idole sind weiblich" von Christine Dobretsberger

Die Bundeskanzlerin a. D. über ihren Lebens- und Berufsweg, der sie selbstbestimmt und schicksalshaft in traditionell männliche Domänen führte.

Mein beruflicher Lebensweg begann in einer Zeit, als Frauen in der Richterschaft numerisch noch weit in der Minderheit waren. Die Richter mussten sich erst daran gewöhnen, dass Frauen in dieser traditionell männlichen Domäne Fuß fassen. Die Skepsis, die ich bisweilen zu spüren bekam, nahm ich nicht persönlich, es war einfach ungewohnt für viele Kollegen, dass Frauen diesen Beruf ergreifen. Mir haben im Lauf der Jahre eine Reihe von Frauen imponiert. Sie alle zu nennen, wäre nicht möglich.

In den Anfangsjahren kam mir und wohl allen Frauen meiner Generation das Wirken der damaligen Staatssekretärin und späteren Frauenministerin Johanna Dohnal zugute, die aus meiner Sicht viel für die Gleichstellung der Frauen auf den Weg gebracht hat. In diesem Geist des Wandels hat sich mein beruflicher Werdegang entwickelt. Ihr Engagement hat dazu geführt, dass Frauen mehr Chancen geboten wurden und die Arbeit von Frauen besonders in typisch männlichen Domänen akzeptiert und ernst genommen wurde.

Dass ich studierte und Richterin wurde, war mir nicht in die Wiege gelegt. Außer einem Onkel, der das Studium Maschinenbau an der damaligen Technischen Hochschule absolviert hatte, gab es in meiner Familie keine Akademiker. Mein Vater hätte gerne Mathematik studiert, seine Mutter war aber früh verwitwet, und daher war ein Studium aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich. Meine Mutter war künstlerisch im Bereich Grafik hochbegabt und hatte die Kunstgewerbeschule besucht, ging allerdings keinem Erwerbsberuf nach. Sie war Hausfrau, was damals durchaus üblich war und vermutlich einer der Gründe dafür ist, dass ich sehr früh den Wunsch hatte, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Dass ich mich letztlich für das Jusstudium entschloss, hatte ausschließlich pragmatische Gründe, da war anfangs wenig Lust oder Leidenschaft im Spiel, wohl aber Interesse. Mein vorrangiges Ziel war es, mit dem Studium möglichst rasch fertig zu werden, um meine Eltern nicht lange finanziell zu belasten und selbstständig zu sein. Obwohl es mir gelungen ist, das Studium in kurzer Zeit zu beenden, hatte ich im Grunde noch kein bestimmtes Berufsziel vor Augen. Erst im Zuge des sogenannten Gerichtsjahres wurde mir bewusst, dass der Richterberuf überaus spannend und abwechslungsreich ist.

Als Richterin ist man bereits in relativ jungen Jahren in einer sehr verantwortlichen und unabhängigen Position; man ist von Beginn an den eigenen professionellen Ansprüchen, seinem Gewissen und natürlich dem Recht verpflichtet. Alle meine Ausbildungsrichter waren Männer.

Einmal wurde ich sehr direkt gefragt, ob ich als Frau nicht lieber in einer Bank arbeiten möchte. Ich war glücklicherweise nie besonders zart besaitet und nahm es nicht persönlich, es entsprach damals dem Gesellschaftsbild. Bereits mit 25 war ich Richterin und begann am Bezirksgericht im zivilrechtlichen Bereich. Da mich Strafsachen besonders interessierten, wechselte ich noch 1975 an das damalige Strafbezirksgericht Wien.

Im Jahr 1977 wurde ich zur Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Wien ernannt. Ab diesem Zeitpunkt hatte ich es mit der ganzen Bandbreite an Straftaten zu tun, bis hin zu Kindesmissbrauch und Mord. Ich musste lernen, diese oft doch sehr belastenden Umstände nicht so nahe an mich heranzulassen, dass sie mir nachts den Schlaf rauben konnten. Wenn man das nicht schafft, ist es sehr schwer, diesen Beruf auszuüben.

Nachdem ich mehrere Jahre Staatsanwältin in erster Instanz gewesen war, kam der damalige Leiter der Oberstaatsanwaltschaft Wien mit der Frage auf mich zu, ob ich ab sofort die Vertretung einer Kollegin übernehmen könnte. Ich wollte damals auf Skiurlaub fahren, wusste aber, wenn ich dieses Angebot ausschlage, kommt eine solche Frage nie wieder. Ich empfand es als schicksalhafte Chance. Hätte ich damals nicht zur Oberstaatsanwaltschaft gewechselt, wäre mein beruflicher Weg wohl ganz anders verlaufen.

Verfassungsgerichtshof

Ich hatte in meinem Berufsleben oft das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, und dann auch den Mut, jene Chancen wahrzunehmen, die sich mir boten. Dies gilt ebenso für meine Bewerbung als Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs. Ich wäre selbst nie auf die Idee gekommen, diese hohe und besonders verantwortungsvolle Position anzustreben. Als mich der entscheidende Anruf erreichte, kam ich gerade von einem Griechenlandurlaub zurück und wollte eben am Flughafen meinen Koffer vom Förderband nehmen. Im ersten Moment dachte ich an einen Scherz, aber es war eine ernst gemeinte Frage.
Brigitte Bierlein war zuerst Vizepräsidentin, dann Präsidentin des VfGH. - © APA / GEORG HOCHMUTH
Brigitte Bierlein war zuerst Vizepräsidentin, dann Präsidentin des VfGH. - © APA / GEORG HOCHMUTH

Dass ich dann tatsächlich von der Bundesregierung vorgeschlagen und vom Bundespräsidenten ernannt wurde, war keineswegs eine ausgemachte Sache, es gab mehrere qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber. Dennoch war es bei all diesen überraschenden Fragen letztlich so, dass ich mir die neuen Herausforderungen tief im Inneren zugetraut habe. Wohl mit großer Ehrfurcht vor der jeweiligen Funktion, schlussendlich dachte ich mir aber immer: Wenn andere das schaffen, muss das auch für mich machbar sein.

Als ich 2003 zur Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofes ernannt wurde, kam ich aus dem Strafrecht. Das war ein Quereinstieg aus einem anderen Metier. Ich war gefordert, mich mit einem juristischen Feld vertraut zu machen, das für mich zwar schon immer hochinteressant, aber doch neu war. Teil dieses Gerichtshofes sein und diesen später als Präsidentin leiten zu dürfen, war für mich als Juristin eine Auszeichnung allerhöchsten Grades: Der Verfassungsgerichtshof, dem die Kontrolle der Einhaltung der Verfassung und der Grundrechte obliegt, ist eine der Säulen unseres demokratischen Rechtsstaates. Es ist etwas ganz Besonderes, an wichtigen Erkenntnissen dieses Gerichtshofes mitgewirkt zu haben, wie etwa an der Entscheidung über die Aufhebung von Regelungen betreffend die sogenannte Vorratsdatenspeicherung oder an jener über die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Wenn ich zurückblicke, war es beruflich ein lebenslanges Lernen. Das ist auch einer der Gründe, weshalb ich den juristischen Beruf bis heute so spannend finde.

Schwere Entscheidung

An jenem Abend, als das berüchtigte Video erstmals veröffentlicht wurde, saß ich gerade in einem Gastgarten und erhielt von einer Bekannten eine Nachricht per SMS. Mir war sofort klar, das ist eine Zäsur! Dass in der Folge der gesamten Bundesregierung das Misstrauen ausgesprochen würde, war zum damaligen Zeitpunkt nicht abzusehen. Ich hätte jedenfalls nicht im Traum daran gedacht, dass ich auch nur im Geringsten tangiert sein könnte.

Als ich einige Tage später von Bundespräsident Alexander Van der Bellen zu einem Vieraugengespräch in die Hofburg gebeten wurde, machte ich mir selbstverständlich Gedanken. Am ehesten vorstellen konnte ich mir, dass ich für die Übergangsregierung aufgrund meines beruflichen Lebensweges allenfalls als Justizministerin im Gespräch wäre. Als der Herr Bundespräsident mir eröffnete, dass es die Kanzlerschaft betreffe, war ich perplex.

Meine erste Reaktion war: Das kann ich nicht! Woher sollte ich auch die Erfahrung haben? Ich war nie politisch tätig, habe nie einer politischen Partei angehört. Der Herr Bundespräsident meinte dann sinngemäß, diese Reaktion sei typisch für eine Frau, ich möge es mir zumindest überlegen. Das tat ich.

(Interview-Auszug)

 

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